Den Fokus auf dem Wesentlichen zu halten, ist für Chefs in unserer hektischen Zeit besonders schwierig, allerdings auch besonders wichtig. Was ist aus Sicht der Managementforschung aktuell das Wesentlichste, was Top-Manager bewusst im Blick haben sollten?
Möchte man ein gelungenes Leben führen und vor allem als Manager erfolgreich bleiben, ist es entscheidend, Realist zu sein. Das heißt, zu erkennen, dass sich die Realität, in der man ein Unternehmen führt, verändert hat (vgl. Vieweg 2015, S. 1). Die ,atypische‘ Börseneruption vor wenigen Tagen oder die plötzliche Verschiebung der Parteientektonik in der Politik sind sehr aktuelle Beispiele dafür. Plötzlich entstehen ganz überraschende Dynamiken, die alles auf den Kopf stellen, was bisher als normal galt. Die Welt hat sich zu einem sogenannten „komplexen System“ entwickelt. Dieses wissenschaftlich gut beschriebene Phänomen (vgl. Köster und Kruse 2012, S. 3), auch mit dem Begriff VUCA umschrieben (vgl. z.B. Mack und Khare 2016, S. 3; Burg 2017a), hat seine ganz eigenen Regeln und stellt andere Anforderungen an die Unternehmensführung (vgl. Döring-Seipel und Lantermann 2012, S. 1; Kruse und Schomburg 2016).
Complexity is more and more on the agenda of top management, and for good reasons
Veronica Schey; Robert Roesgen, Mastering Complexity (Camelot Management Consultants, 2012)
Aktuelle Studien zum Umgang von Managern mit Komplexität zeigen, dass sich Top-Manager durchaus der Komplexitätsherausforderung bewusst sind. Ebenso bewusst ist Top-Managern, dass sie für diese Herausforderung noch nicht gut genug gerüstet sind: „Despite this experience they still do not feel well prepared to face the expected increase in complexity” (Schey und Roesgen 2012, S 8; vgl. ebenso Deloitte 2018, S. 3.). Damit man sich rüsten kann, muss man die Realitäten reflektieren.
Veränderte Welt – veränderter Management-Job
Wenn man im Jahr 2018 ein Unternehmen führt, sollte man, um die richtigen Prioritäten für die eigene Arbeit zu setzen, folgende Fragen bewusst beantworten:
- Habe ich wirklich realisiert, dass ein Umbruch des Systems Welt hin zu einem komplexen System stattgefunden hat?
- Habe ich belastbares Wissen zu den Gesetzmäßigkeiten und Phänomenen komplexer Systeme aufgebaut?
- Ist mir bewusst, dass ein Unternehmen in einer komplexen Umwelt fundamental anders aufzustellen ist? (vgl. Burg 2017b)
Wenn Sie nur eine dieser Fragen mit Nein beantworten, lohnt es sich weiterzulesen.
Ashby’s Law als Herausforderung für das Management
Eine fatale Fehlentscheidung im Umgang mit komplexen Umwelten wäre es, wenn man ein Unternehmen nicht auf Eigenorganisation umstellen würde. Doch warum ist das so? Kurz gesagt: weil das System Unternehmen dann nicht die Vielfalt an Antworten erzeugen kann, die das System Umwelt von ihm verlangt. Es wäre viel zu starr und viel zu langsam. In der System- und Komplexitätsforschung bezeichnet man dies als Ashby’s Law (vgl. Ashby 1956).
Für Top-Manager bedeutet diese Herausforderung aber auch, dass sich ihre eigene Rolle maßgeblich verändert. Probleme werden im wahrsten Sinne in komplexen Systemen gelöst, wenn sich die Chefs „auf die metasystemische Regelung beschränken, also möglichst wenig eingreifen und die Selbstorganisation ermöglichen“ (Bergmann 2014, S. 18). „The fundamental role of managers is to shape and create contexts in which appropriate forms of self-organisation can occur” (Morgan 2009, S. 267).
Kruse und Schomburg schreiben dazu in Führung im Wandel – Ohne Paradigmenwechsel wird es nicht gehen.: |
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„Eine vernetzte Welt braucht andere Formen von Führung. Denn die komplexe Dynamik der Netzwerke verändert die Spielregeln in Wirtschaft und Gesellschaft. Die ansteigende Vernetzungsdichte macht das spontane Auftreten lawinenartiger Selbstverstärkungseffekte wahrscheinlicher – und Vorhersagbarkeit zum Ausnahmefall. Macht verschiebt sich vom Anbieter hin zum Nachfrager, auch innerhalb von Unternehmen. Die Folge: Die Erfolgsprinzipien von gestern verlieren ihre Gültigkeit. An die Stelle straff geordneter Linienhierarchien tritt die Eigendynamik selbstorganisierender Netzwerke. Planungshorizonte schrumpfen und die Fähigkeit zur professionellen Gestaltung ergebnisoffener Prozesse gewinnt an Gewicht. Wettbewerbsstrategien erreichen ihren Grenznutzen und werden abgelöst durch vertikale und horizontale Kooperationen. Für Führungskräfte wird das zu einer Herausforderung, die ohne einen Paradigmenwechsel kaum zu meistern ist“ (Kruse und Schomburg 2016, S. 3). |
Und genau an diesem Punkt beginnen die Schwierigkeiten: Denn Chefs sollen plötzlich den Managementansatz über Bord werfen, den sie seit Generationen an Universitäten gelehrt bekamen. Dort nämlich haben sie erfolgreiches Management in beherrschbaren Kontexten gelernt (vgl. Morgan 2009, S. 300) und daran halten sie im Moment noch fest: „Yet many executives continue to focus on traditional business operations, as opposed to focusing on opportunities to create new value” (Deloitte 2018, S. 3). Alles, was beherrschbar ist, lässt sich Top-down vorausplanen, mit Zielvereinbarungen auf jeden Mitarbeiter herunterbrechen und zu jeder Zeit überschauen sowie kontrollieren.
Dieser Managementansatz funktionierte viele Jahrzehnte. Inzwischen ist die Welt jedoch zu komplex, um sie so zielgerichtet gestalten zu können (vgl. Bergmann 2014, S. 18). Denning gab einem Forbes-Artikel in diesem Zusammenhang den provokanten Titel: „Why Managers Hate Agile“ (Denning 2015). Die Antwort lautet: weil agile Organisationen einen Bruch zu dem bedeuten, was Top-Manager gelernt haben und womit sie in der Vergangenheit erfolgreich ,waren‘. Er kontrastiert mit Bezug auf Gary Hamel: „The world of „management“ is vertical. (…) Its mindset is also vertical. ,Strategy gets set at the top. Power trickles down. Big leaders appoint little leaders. Individuals compete for promotion. Compensation correlates with rank. Tasks are assigned. Managers assess performance. Rules tightly circumscribe discretion.‘ (…) The Agile world is horizontal” (Denning 2015).
Keine analogen Methoden für eine digitalisierte Zeit
Ganz fatal wäre es vor diesem Hintergrund, wenn Top-Manager weiterhin auf ihre alten Methoden vertrauen. Wenn sie quasi versuchen, mit analogen Methoden die digitale Zeit zu managen. Psychologisch ist dieses Umdenken für Top-Manager allerdings eine große Herausforderung, denn für sie gilt nun, „zu handeln und zu entscheiden unter der Bedingung unvollständigen Wissens, d.h. unter Anerkennung einer hohen informationellen Unsicherheit“ (Döring-Seipel und Lantermann 2012, S. 7). Und diese Unsicherheit mögen wir alle nicht. Im Essay Nr. 4 habe ich über unser genetisches Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung berichtet (Burg 2017c). Dieses gilt natürlich auch für Top-Manager.
Welche Strategien Menschen wählen, um sich unter unsicheren Umständen ein hinreichendes Maß an subjektiver Handlungssicherheit zu schaffen, damit hat sich die psychologische Forschung zum komplexen Problemlösen in den letzten 20 Jahren beschäftigt (vgl. Döring-Seipel und Lantermann 2012, S. 7). Welche Fehler Menschen dabei jedoch unterlaufen können, wurde erstmals von der Forschungsgruppe um Dietrich Dörner beschrieben. Diese Forschungsergebnisse zu reflektieren, ist für Manager in der derzeitigen Situation unendlich wichtig. Denn sie weisen auf Sackgassen hin. Folgende drei Handlungsstrategien sollten Top-Manager zum Beispiel vermeiden (vgl. Dörner 2017; Strohschneider 2002, Döring-Seipel und Lantermann 2012, S. 12ff):
- Handeln nach dem Reparaturdienstprinzip (isolierte Einzelmaßnahmen – kurzfristig angelegt und reaktiv)
- Einkapseln (Rückzug in einen gut beherrschten, für den Gesamterfolg häufig unwichtigen Teilbereich)
- Informationsabwehr (Ausblenden neuer Realitäten oder der Konsequenzen des eigenen Handelns)
Eine komplexe Welt erfordert ein Umdenken im Management
Statt diese Fehler zu riskieren, sollten Top-Manager mit wachen Augen den Umbruch im Wirtschaftssystem wahrnehmen und dann die eigene Aufgabe neu definieren. Auch gegen die eigenen Widerstände! Für Top-Manager ist es enorm wichtig, die eigenen Reflexe und Strategien zu reflektieren, mit denen sie das Unternehmen zukunftsfest machen wollen. Chefs sind auch nur Menschen, keine Maschinen. Das darf man nie vergessen. Ihre menschlichen Fehler haben aber große Folgen, insbesondere in einer Zeit, in der das Boot sehr schnell kentern kann. Lebenslanges Lernen macht auch vor Top-Managern nicht Halt.
Artikel zitieren
Burg, M. (2018): Warum Reflexion und ein geschärfter Blick für Top-Manager im Moment so wichtig sind / Essay 8, in: VUCABLOG [Wegblog], 16.02.2018, Online-Publikation: https://blog.monikaburg.com/2018/02/16/selbstreflexion-umdenken-managementlehre-komplexitaet-fuehrung-prioritaeten-vucability/, Abrufdatum: TT.MM.JJJJ
Literaturverzeichnis
Ashby, Ross (1956): Introduction to Kybernetics. [Place of publication not identified]: MARTINO FINE Books.
Bergmann, Gustav (2014): Die Kunst des Gelingens. Wege zum vitalen Unternehmen. 3., überarbeitete Auflage. Sternenfels: Verlag Wissenschaft und Praxis.
Burg, Monika (2017a): VUCA – Vier Buchstaben, die die Welt erklären / Essay 1, in: VUCABLOG [Weblog], 3.11.2017, Online-Publikation: https://blog.monikaburg.com/2017/11/03/vuca-vier-buchstaben-die-die-welt-erklaeren/.
Burg, Monika (2017b): VUCABILITY® – was dahinter steckt / Essay 2, in: VUCABLOG [Weblog], 20.11.2017, Online-Publikation: https://blog.monikaburg.com/2017/11/20/marke-vucability-vuca-unternehmensfuehrung-personalfuehrung-selbstfuehrung/.
Burg, Monika (2017c): Warum Gefühl in der Führung Agilität erzeugt / Essay 4, in: VUCABLOG [Weblog], 15.12.2017, Online-Publikation: https://blog.monikaburg.com/2017/12/15/psychologische-grundbeduerfnisse-hirnforschung-vernunft-emotion-fuehrung-vucability/.
Deloitte (2018): Industry 4.0 Readyness-Report. The Fourth Industrial Revolution is here – are you ready? Hg. v. Deloitte. Deloitte (Deloitte Insights). Online verfügbar unter https://www2.deloitte.com/content/dam/insights/us/articles/4364_Industry4-0_Are-you-ready/4364_Industry4-0_Are-you-ready_Report.pdf.
Denning, Steve (2015): Why Do Managers Hate Agile? In: Forbes, 26.01.2015. Online verfügbar unter https://www.forbes.com/sites/stevedenning/2015/01/26/why-do-managers-hate-agile/#6a0d861d3a57.
Döring-Seipel, Elke; Lantermann, Ernst-Dieter (2012): Komplexität – eine Herausforderung für Unternehmen und Führungskräfte. In: Sven Grote (Hg.): Die Zukunft der Führung. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, S. 153–171.
Dörner, Dietrich (2017): Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. 14. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (Rororo, 61578 : Science).
Köster, Heinz; Kruse, Claudia (2012): Systemkompetentes Handeln in Unternehmen. Entwicklung eines Konzeptes zur Förderung der Systemkompetenz von Führungskräften. Zugl.: Paderborn, Univ., Diss., 2011. Bochum: Univ.-Verl. Brockmeyer.
Kruse, Peter; Schomburg, Frank (2016): Führung im Wandel – Ohne Paradigmenwechsel wird es nicht gehen. In: Olaf Geramanis und Kristina Hermann (Hg.): Führen in ungewissen Zeiten. Impulse, Konzepte und Praxisbeispiele. Wiesbaden: Springer Gabler (uniscope. Publikationen der SGO Stiftung), S. 3–15.
Mack, Oliver; Khare, Anshuman (2016): Perspectives on a VUCA World. In: Oliver J. Mack, Anshuman Khare, Andreas Krämer und Thomas Burgartz (Hg.): Managing in a VUCA World. Cham, Heidelberg, New York, Dordrecht, London: Springer, S. 3–20.
Morgan, Gareth (2009): Images of organization. Updated ed., [Nachdr.]. Thousand Oaks, Calif.: SAGE Publ.
Schey, Veronica; Roesgen, Robert (2012): Mastering Complexity. Hg. v. Camelot Management Consultants (Focus Topic Paper).
Vieweg, Wolfgang (2015): Management in Komplexität und Unsicherheit. Für agile Manager. Wiesbaden: Springer (essentials). Online verfügbar unter http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-08250-5.
Strohschneider, Stefan (Hg.) (2002): Ja, mach nur einen Plan. Pannen und Fehlschläge – Ursachen, Beispiele, Lösungen. 2., vollst. überarb., erw. und aktualisierte Aufl. Bern: Huber (Psychologie Forschung).
Bildquelle: Free-Photos – Pixabay.com
Zuletzt aktualisiert am 4.3.2018
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